Erfolgreiche Skalierung digitaler Geschäftsmodelle

Die Herausforderungen der produzierenden Industrie

von Benedikt Moser und Marcel Faulhaber

Seit der Einführung des Begriffs „Industrie 4.0“ als Bezeichnung für die massenhafte Verbindung von Informations- und Kommunikationstechnologien mit der industriellen Produktion wird das Thema national wie international in Wirtschaft und Forschung in zahlreichen Initiativen und Projekten behandelt. Enorme wirtschaftliche Potenziale wurden (und werden immer noch) in diversen Studien beziffert. Wirtschaftlich-nachweisbare Erfolge durch die Implementierung von Industrie 4.0 bleiben allerdings weit hinter ihren Erwartungen. Unternehmen nutzen die sich durch die Technologien bietenden Möglichkeiten aktuell meist nur zur Optimierung ihrer eigenen Prozesse oder maximal zur Ergänzung bestehender Geschäftsfelder (siehe Abbildung 1).

Unternehmen sehen sich gezwungen, bereits heute neue Wege zu gehen, und versuchen, vermeintlich disruptive Innovationen zu verfolgen, bevor ein bestehender Konkurrent oder neuer Marktteilnehmer das eigene Kerngeschäft morgen obsolet macht. Umsätze aufgrund von neu erschlossenen oder sogar gänzlich digitalen Geschäftsfeldern konnten und können allerdings von den wenigsten produzierenden Unternehmen dauerhaft im Markt erzielt werden. Unternehmen stehen folglich vor der Herausforderung, konkurrierende und teilweise sich gegenseitig kannibalisierende Geschäftsmodelle parallel zu verfolgen. Gleichzeitig erzielen diese neuen Geschäftsmodelle nicht nur wenig Umsatz, sondern erfordern meist auch große Investitionen seitens der Unternehmen sowie ggfs. auch eine Anpassung der Organisation.

Eine der Kernherausforderungen für etablierte Unternehmen stellen hierbei die besonderen Eigenschaften digitaler und digitalisierter Geschäftsmodelle dar. Gemeinsam mit neuen Wirkmechanismen und folglich neuen Zielen stellen diese vom Kerngeschäft abweichende Anforderungen an die Organisationen(1).

Abb. 1: Unterschiedliche Ebenen einer Digitalisierungsstrategie

In der Literatur wie auch in der Praxis sind maßgeblich zwei Strömungen zu nennen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Auf der einen Seite versuchen Unternehmen, sich in die Lage zu versetzen, gleichzeitig explorative und exploitative Tätigkeiten innerhalb der bestehenden Unternehmensgrenzen auszuüben (organisationale Ambidextrie). Explorative Tätigkeiten kennzeichnen sich dabei durch eine maßgebliche Verbesserung und Erneuerung bestehender Prozesse, Produkte, Leistungen und Geschäftsmodelle. Für die erfolgreiche Durchführung dieser Tätigkeiten sind unter anderem eine gewisse Risikobereitschaft und Offenheit gegenüber Neuem seitens der Mitarbeiter, flache Hierarchien, freie bedarfsgerechte Kommunikation und Kooperation von Bedeutung.

Währenddessen finden sich exploitative Tätigkeiten oft im Kern der Unternehmen. Dank optimierter Prozesse, jahrelanger Erfahrung, bestehender Kundenkontaktpunkte sind diese Tätigkeiten auf Effizienz ausgerichtet und erzeugen den für das gesamte Unternehmen maßgeblichen Umsatzanteil. Merkmale, welche die Durchführung dieser Tätigkeiten positiv beeinflussen, sind unter anderem eine hohe Formalisierung der Prozesse, etablierte Hierarchien, festgelegte Kommunikationsstrukturen, klare Entscheidungsprozesse sowie ein risiko­affines Verhalten der Mitarbeiter.

Um diesen Herausforderungen zu begegnen, verfolgen viele große Unternehmen einen zweiten Ansatz. In diesem nutzen Unternehmen Innovationsvehikel, um ihre explorativen Tätigkeiten von den exploitativen organisational zu trennen. Studien zeigen, dass große Unternehmen in der frühen Innovations­phase bis zu fünf und durchschnittlich drei unterschiedliche Innovationsvehikel betreiben. Hierzu zählen beispielsweise Kooperationseinheiten, Inkubatoren, Innovationslabore, Corporate-Venture-Capital oder Acceleratoren. 46 Prozent der familiengeführten Unternehmen hingegen leisten sich aufgrund von ressourcenbedingten Engpässen (finanzielle, humane) kein einziges Innovationsvehikel. (Birgl et al. 2019) Unternehmen, welche Innovationsvehikel nutzen, versprechen sich von diesen einerseits eine höhere Innovationsgeschwindigkeit und verfolgen andererseits die Vermeidung von Konflikten zwischen neuem und altem Geschäft.

Schaut man sich jedoch einige Beispiele in der Praxis an, tritt oft schnell Ernüchterung ein. Trotz hoher Investitionen scheitern neue extern verfolgte Geschäftsmodelle oft nach wenigen Jahren und werden entweder eingestellt oder mit dem Kerngeschäft der Mutterorganisation zusammengelegt(2). Wie sollten Unternehmen nun aber die richtige organisationale Verankerung ihres Geschäfts gestalten?

Digitale Geschäftsmodelle – Lessons learned

Die meisten Digitalinitiativen der Unternehmen lassen sich, wie eingangs bereits erwähnt, im Bereich der internen Optimierung verorten. Aktivitäten und Innovationen zielen bei diesem Bottom-Line-Ansatz auf eine Reduzierung der internen Kosten ab (siehe Abbildung). Hierbei ist es von besonderer Bedeutung, dass diese Einordnung sowie deren „Folgen“ für die Steuerung und Erfolgsmessung auch den Verantwortlichen bewusst ist. Zu oft kommt es vor, dass Unternehmen Projekte zur internen Optimierung anstoßen und deren Erfolg an Umsatzsteigerungen gemessen wird, die jedoch nie das Ziel der Aktivität waren.

Eine weitere typische Herausforderung von Unternehmen ist, Projekte zur internen Optimierung gar nicht erst anzustoßen, da den Verantwortlichen bewusst ist, dass keine Umsatzsteigerung erfolgen wird. Unternehmen sind jedoch nicht in der Lage, ein wirtschaftliches digitales oder digitalisiertes Geschäftsmodell zu betreiben, ohne zunächst die internen Prozesse optimiert zu haben.

Einige Unternehmen ergänzen bereits ihre bestehenden Geschäftsfelder im Produkt- und Servicebereich mit neuen digitalen Angeboten und sorgen so für eine Umsatzsteigerung durch digitale Ansätze. Diese befinden sich in einer starken Abhängigkeit mit dem Kerngeschäft und werden entsprechend diesem zugerechnet. Die Übergänge von interner Optimierung durch Digitalisierung der Prozesse bis hin zu digitalen Geschäftsmodellen sind dabei in der Regel für die Unternehmen fließend(1) (siehe Abbildung).

Abb. 2: Beispiele für Initiativen zur Senkung interner Kosten (Bottom-Line) sowie Steigerung von Umsätzen (Top-Line)

Dieser fließende Übergang erschwert Unternehmen die richtige organisationale Verankerung ihrer Geschäftsmodelle. Da diese sich ebenfalls über die Zeit entwickeln, muss das Zusammenspiel zwischen Neuem und Altem ständig hinterfragt werden. Den Unternehmen muss bewusst sein, dass ihre Kernkompetenzen nicht im Bereich der allgemeinen Digitalisierung, sondern viel mehr in ihren respektiven Domänen liegen. Dort haben die Unternehmen erfolgreich über Jahrzehnte ein tiefes Verständnis über Prozesse und Kundenbedürfnisse erlangt. Produzierende Unternehmen, die versuchen, das neue Google oder Facebook ihrer Branche aufzubauen, werden oft schnell mit der harten Realität konfrontiert.

Für das Agieren außerhalb der eigenen Kernkompetenzen und das Ignorieren möglicher Synergien mit dem Kerngeschäft durch die Ausgründung werden digitale Spin-offs der Unternehmen durch fehlende Umsätze abgestraft. Für die Vielzahl von industriellen Plattformanbietern wird daher in den nächsten Jahren eine Selbstregulierung des Marktes erwartet. Von den aktuell über 1 000 Plattformen werden sich über die nächsten Jahre voraussichtlich einige wenige industriespezifische Anbieter behaupten(3).

„Je eigenständiger die Geschäftsidee ist, desto eher sollte diese in einem selbstständigen Spin-off verfolgt werden.“

Unternehmen müssen daher einerseits ihre Kernkompetenzen kennen, klare Ziele definieren und für die Erreichung dieser entsprechende strategische Partnerschaften etablieren. Andererseits müssen Unternehmen in der Lage sein, ihre neuen und bestehenden Geschäftsmodelle miteinander zu vergleichen und abzuwägen, ob die Verfolgung dieser außerhalb der bestehenden Unternehmensgrenzen in einer rechtlich-eigenständigen Entität oder innerhalb der Mutterorganisation erfolgen soll.

Entscheidend hierbei ist ein dezidiertes Abwägen über die bestehenden Abhängigkeiten und Ähnlichkeiten der beiden Geschäftsmodelle sowie möglicher Abweichungen und Widersprüche. Letztendlich muss ein Abwägen zwischen möglichen Synergien und potenziellen Konflikten und Reibungsverlusten stattfinden. Je eigenständiger dabei die Geschäftsidee im Vergleich zum Kerngeschäft ist, desto eher sollte diese in einem selbstständigen Spin-off verfolgt werden.

Typische Synergien, welche Spin-offs mit ihren Mutterorganisationen beachten sollten, sind unter anderem die gemeinsame Nutzung von Supportprozessen, Austausch von Domänen-Know-how und Experten sowie Kundenzugänge. Ein Praxisbeispiel für das anfänglich fehlende Nutzen von Synergien ist die SMS group mit ihrer digitalen Tochter, der SMS digital. Gegründet wurde die SMS digital als klassisches Schnellboot zur Entwicklung von neuen digitalen Produkten für die Kunden der Stahlindustrie. Drei Jahre nach Gründung blieben die Umsätze der vier Produkte jedoch hinter den Erwartungen. Folglich entschied man sich, einen Teil des einstigen Kerngeschäftes zusammen mit den verantwortlichen Mitarbeitern in die SMS digital umzuschichten.

Hierdurch war man nun in der Lage, auf Domänenwissen der Experten zurückzugreifen, reale Kundenprobleme zu lösen und gleichzeitig eine schnelle Entwicklung neuer Produkte zu garantieren. Die richtige Distanz zwischen beiden Geschäftsmodellen sowie die richtige organisationale Verankerung des neuen Geschäftes waren hier von zentraler Bedeutung für den Erfolg.

Die initiale Verankerung eines neuen Digitalgeschäftes oder die Bewertung einer Neuausrichtung des bestehenden digitalen Spin-offs kann für produzierende Unternehmen schnell überfordernd sein. Das Center Smart Services auf dem RWTH Aachen Campus unterstützt produzierende Unternehmen dabei, die für sich passende Strategie zu definieren und erfolgreich zu durchlaufen. //


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Benedikt Moser Marcel Faulhaber

Quellen:
(1) Whitepaper: Digitale Geschäftsmodelle in der produzierenden Industrie
(2) https://automationspraxis.industrie.de/industrie-4-0/trumpf-gibt-axoom-an-gft-ab/
(3) https://www.unity.de/fileadmin/Insights/Artikel/Business_impact_04-2017_UEberlebenskampf.pdf

Aufmacherbild / Quelle / Lizenz
Bild von Gerd Altmann auf Pixabay