Eine Einordnung von Marketinghype und Technologie
von Michael Berns
Künstlicher Intelligenz (KI, AI engl.) begegnen wir 2020 nahezu täglich, auch wenn wir uns nicht immer dessen bewusst sind.
Ganze Branchen verändern sich im Rahmen der digitalen Transformation vor unseren Augen und viele der großen amerikanischen und chinesischen Technologie-Firmen verfolgen eine „AI first“-Strategie. Warum der Mittelstand bei diesem Thema nicht abwarten sollte und welche ersten Schritte es zu gehen gibt, zeigt dieses Kapitel.

„Auch wenn viele der jetzigen
Michael Berns
Lösungen einen Menschen nicht
ersetzen können, hat die Veränderung schon begonnen – der digitale Assistent ist angekommen.“
Eine andere Möglichkeit, KI breiter, aber auch dynamischer zu definieren, bietet z. B. Kristian Hammonds KI-Periodensystem(2). Darin werden KI-Lösungen aus 28 Legoblöcken, die Teilfunktionen wie Bild oder Spracherkennung darstellen, zusammengestellt.
Auch wenn KI von John McCarthy in den 50er-Jahren als „die Wissenschaft und die Schaffung von intelligenten Maschinen“ definiert wurde, so ist es heute etwas komplexer. Das liegt einerseits daran, dass der Begriff Intelligenz selbst inzwischen wesentlich breiter als über den reinen IQ definiert wird, aber auch daran, dass sich viele der Fachbegriffe überschneiden (siehe Abbildung 1). Noch dazu beinhalten die meisten KI-Anwendungen, wie z. B. selbstfahrende Autos, eine Reihe von verschiedenen Technologien.
Trotz aller Komplexität ist es wichtig, zu verstehen, dass die Entwicklung einer sogenannten starken KI, also einer menschenähnlichen, selbstständig denkenden Lösung, noch viele Jahre in der Zukunft liegt. Worüber wir heute sprechen, wenn wir über KI-Anwendungen reden, ist eine sogenannte schwache KI, die dazu dient, eine kleine Anzahl von Problemstellungen eigenständig zu lösen. Auch wenn viele der jetzigen Lösungen nur eine Genauigkeit von um die 80 Prozent erreichen und einen Menschen nicht ersetzen können, hat die Veränderung schon begonnen – der digitale Assistent ist angekommen.

Wie auch immer man künstliche Intelligenz definieren möchte, eines ist klar – sie wird die Welt grundlegend verändern. Dazu mehr im nächsten Absatz.
Warum muss sich der Mittelstand jetzt mit KI befassen?
Natürlich gilt es, nach Branchen und Ländern zu differenzieren, wenn es um den Einfluss von KI in der Zukunft geht. Eine PwC-Studie(3) von 2017 versucht es grob zu beziffern: Zehn Prozent Wirtschaftswachstum in Nordeuropa bis 2030 durch KI, verglichen mit einem weltweiten Anstieg um 14 Prozent im gleichen Zeitraum. Die Länder, die am meisten profitieren (wie China, USA) haben einen hohen Digitalisierungs- und Automatisierungsgrad. Die Branchen, die laut Voraussagen am meisten betroffen sind: Gesundheit, Automotive & Finanzdienstleistungen.
Wöchentlich werden weitere Studien zu diesem Thema veröffentlicht: Natürlich lässt es sich nicht genau vorhersehen, aber darum geht es nicht, denn auch wie wir gerade festgestellt haben, können auch Lösungen, die eine Genauigkeit von 80 Prozent haben, schon eine gewaltige Stimulation auslösen.
„Wie auch immer man künstliche Intelligenz definieren möchte, eines ist klar – sie wird die Welt grundlegend verändern.“
Michael Berns
Um dieses Wachstum auch in Deutschland zu realisieren, muss natürlich noch viel passieren. Aber gerade der Mittelstand mit seinen Spezialfirmen, die auch außerhalb von Deutschland tätig sind, wird sich vor dem globalen Trend nicht verstecken können. Das bringt uns zum nächsten Teil.
Was sind Grundbausteine für eine KI-Strategie?
Auch wenn viele Entscheider sehr interessiert daran sind, Projekte mit KI zu starten, so sollte dies jedoch in Abstimmung mit ihrer Geschäftsstrategie und nicht im Silo geschehen. Das heißt zunächst einmal gilt es, den Reifegrad in Bezug auf KI der folgenden Faktoren zu beurteilen:
(Geschäfts-)Strategie
Level 1 – Eingeschränkt
Analytics / KI ist nicht mit der Geschäftsstrategie verbunden
Level 2 – Isoliert
Vereinzelter Austausch zwischen Business und Analytics zu den wichtigsten Prozessen
Level 3 – Entwickelt
Es besteht Klarheit zwischen Business und Analytics zu allen relevanten Prozessen
Level 4 – Integriert
Analytics und Business sind im Austausch, vereinzelt werden neue Einsatzmöglichkeiten vorgeschlagen
Level 5 – Führend
KI ist Chefsache – separates (KI-/Innovations-)Budget, nicht Teil der IT-Kostenstruktur. Die Führungsebene versteht die Möglichkeiten, die KI bietet, und ist im regelmäßigen Dialog mit Analytics / KI.
Analytics
Level 1 – Eingeschränkt
Eingeschränktes Reporting möglich
Level 2 – Isoliert
Isolierte Dashboards / Analytics
Level 3 – Entwickelt
Berichte können direkt angepasst werden
Level 4 – Integriert
Fortschrittliche & flexible Szenario-Analyse
Level 5 – Führend
Realtime-Analyse auch für große Datenmengen möglich
Eine gesamtheitliche Strategie sollte den Reifegrad der Firma insgesamt, aber auch der einzelnen Teilbereiche berücksichtigen. Diese sollten parallel verbessert werden. D. h., es wird insgesamt wenig bringen, wenn man in eine schnelle Big-Data-Plattform investiert, auf der man flexibel Szenario-Analyse machen könnte, aber seine Hausaufgaben in Sachen Datenqualität noch nicht gemacht hat. Oder wenn man zwar ein zentrales KI-Team aufgebaut hat, aber keine Innovationskultur oder keinen Dialog mit den Praktikern im Unternehmen führt. Das schwächste Glied wird hier zum Flaschenhals.

Wie wählt man erste KI-Experimente / Use Cases aus?
Nachdem wir gerade die verschiedenen Komponenten einer KI-Strategie definiert haben und uns des Reifegrades des Unternehmens bewusst sind, gilt es, diese Einsichten nun zu kombinieren:
Auswahl von relevanten Use Cases:
1. (Geschäfts-)Strategie
Was sind die wichtigsten Prozesse im Unternehmen und welche sollen priorisiert, automatisiert oder besser analysiert werden?
Es ist hierbei sehr wichtig, die Geschäftsführung mit einzubeziehen. Denn leider sind sehr viele KI-Initiativen rein technisch getrieben und werden sehr wahrscheinlich ohne Business-Stakeholder früher oder später gestoppt.
2. Analytics
Welche Art von Analysen / Einsichten hätte die Geschäftsleitung gerne, über die sie heute nicht oder nur mit hohem Aufwand verfügen kann? Wie kann ein skalierbarer Ansatz erreicht werden?
3. Daten
Welche Datenmengen und welche Datenqualität sind für die jeweiligen Use Cases vorhanden, um die gewünschten Einsichten zu erhalten? Ist Datenschutz und Compliance eingebunden?
4. Mitarbeiter
Welche Mitarbeiter arbeiten auch heute schon datenaffin? Habe ich Mitarbeiter, die ich zunächst mit evtl. 20 Prozent ihrer Zeit in eine lose KI-Arbeitsgruppe stecken könnte? Decke ich dort (evtl. im Rahmen eines agilen Squads) die Bereiche Business / Reporting / Datenstrecke (ETL) und Data Science ab?
5. Innovation
Hat die Firma eine Innovationskultur? Wie marktrelevant sind die intern erbrachten Ideen? Wenn ich mich in Richtung KI bewegen möchte – könnte ich evtl. Innovationsworkshops und vielleicht sogar Hackathons dazu nutzen, Ideen und Talente sowohl in meiner Firma als auch extern zu identifizieren und zu fördern?
Mit der richtigen Innovations- und Experimentierkultur sollte es möglich sein, sich schrittweise an die relevantesten Use Cases heranzutasten, solange genau analysiert wird, was die Fehler / Blocker waren. Also z. B. fehlende Daten, wechselnde Sponsoren, keine Skalierbarkeit etc.
Schrittweises Herantasten an KI
Ein wichtiges Prinzip, um sowohl KI als auch die Auswahl der richtigen Use Cases zu verstehen, ist das Prinzip der schrittweisen Verbesserung. Es lässt sich gut anhand der AI-Pyramide (Abbildung 3) unten erklären:
Interne & externe Datensammlung:
Wie für Analytics auch, so steht und fällt für KI alles mit der Verfügbarkeit von Daten. Diese müssen in ausreichender Menge und mit der richtigen Qualität vorhanden sein, sonst könnte es große zusätzliche Aufwände geben.
Infrastruktur, ETL, (un)strukturierte Datenspeicherung:
Sicher ist eine Cloud oder Big-Data-Architektur nicht für alle Anwendungen von KI zwingend notwendig, aber die Ansätze dazu sollten da sein. In einem Großteil von Use Cases geht es um die Umwandlung unstrukturierter Daten in strukturierte Daten (z.B. Dokumenten oder Sprachanalyse). Solange die verwendete Plattform keine vorgefertigten Adapter hat und es nicht um Standardformate geht, sollte man davon ausgehen, dass auch Schnittstellen / ETLs (Extract, Transform, Load) gebaut werden müssen.
Bereinigung & Anomalieerkennung:
Hier werden die vorhandenen Daten geprüft und unter Umständen augmentiert.
In vielen KI-Projekten, in denen es nicht um Standarddatenformate geht, können 60 bis 70 Prozent des Gesamtprojektaufwands mit den ersten drei Stufen verbraucht werden.
Analyse & Zusammenführung:
Hier beginnt die eigentliche Arbeit des Data Scientists. Es gilt, sich schnell ein Bild zu machen, wie die vorhandenen Daten aussehen, und diese mit zusätzlichen Informationen anzureichern.

Experimente, Machine Learning
Wie auch schon beim schrittweisen Herangehen erwähnt, liegt der Fokus hier auf einem experimentellen Herangehen. Data Science ist sowohl Kunst als auch Wissenschaft. Mit viel Erfahrung kann ich ungefähr vorhersagen, wie gut die Daten für einen Use Case ungefähr sein werden oder welche Machine-Learning-Methoden ich anwenden würde. Aber: Erst wenn ich die Daten in den Händen halte und verschiedene Experimente durchgeführt habe, weiß ich letztendlich, wo die Reise hingeht.
Deep Learning
Es gilt, für jeden einzelnen Use Case zu erwägen, welche Modelle man verwendet. Typischerweise braucht man, um ein neuronales Netz mit vielen verschiedenen Schichten zu trainieren, nochmals mehr Daten und man begibt sich in einen Bereich der KI, der von vielen aufgrund seiner mangelnden Erklärbarkeit auch als Black Box bezeichnet wird. Gerade in den ersten KI-Gehversuchen sollte es um Transparenz und Vertrauen gehen, dazu ist Deep Learning wenig geeignet.
Fazit
Wenige Zukunftstechnologien versprechen so viel wie die künstliche Intelligenz. Ich würde mich sehr freuen, von ihren KI-Experimenten zu hören und wünsche Ihnen alles Gute. //
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Fußnoten und Quellen:
(1) Combrinck, 2017
(2) Kristian Hammond – Periodic Table of AI, 2027
(3) PwC – Sizing the price, 2017
(4) Autor, 2020
(5) Autor, 2019